Waldlieder


WÄLDER IM WALDE


„Langweilig ist der Kiefernwald?”

Mein Freund, das widerrufst du bald!



Da denk' ich wohl, du sahst ihn nimmer,

Wenn röthlich in den Wipfeln träumt

So still der letzte Sonnenschimmer,

Und alles rings mit Gold sich säumt.

Wenn sanfte Sehwermuth wie ein Duft

Liegt in der weichen Abendluft,

Und sich der Wald im letzten Strahle

Abspiegelt in dem glatten See,

Indess zum Wiesengrund im Thale

Vorsichtig zieht das schlanke Reh,

Und bei der Drossel letztem Liede

Sich niedersenkt der Abendfriede.



Doch auch im stillen Sonnenschein

Und bei des Mittags heißen Lüften,

Wo alles schwimmt in harz'gen Düften,

Da wandr' ich gerne dort allein.

Zu Häupten nur ein sanftes Singen,

Und niederwärts im sonn'gen Kraut

Ein Wetzen, Schwirren und ein Klingen.

Am Sandhang stehn die Schwebefliegen,

Und die Perlmutterfalter wiegen

Am Thymian sich. – Sonst kaum ein Laut,

Als aus der hohen Luft zuweilen,

Wo der Milan die Kreise schwingt,

Ein ferner Schrei. – Die Ammer singt

Verschlafen ihre kurzen Zeilen

Am Waldesrand. Auch flötet wohl

Versteckt im Wipfel ein Pirol.

Hier schreit ein Häher rauh und eigen,

Dort klopft ein Specht. –



Dann wieder Schweigen.



Doch wenn das rothe Stammgewimmel,

In dessen Wipfeldecke blaut

Manch zackig Stück vom Sommerhimmel,

Der müde Blick genug geschaut,

Da magst du ihn zum Boden senken,

Und neue Wunder wirst du sehn:

Ein zierlich Wäldchen siehst du stehn,

Viel schöner, als du mochtest denken,

Von Heidekraut und Heidelbeeren.

Die kleinen Bäumchen stehn so zierlich,

So feinverzweigt und so manierlich,

Als ob der wahre Wald sie wären.

Viel Thierchen halten darin Haus:

Das Hochwild ist die braune Maus,

Eidechsen huschen dort am Grunde,

Und Käfer krabbeln durch das Laub.

Die Spitzmaus schnüffelt dort nach Raub,

Und in der sonn'gen Mittagsstunde,

Da fliegt um seine niedern Wipfel

Manch Schmetterling mit buntem Tipfel

Und bietet seine Pracht zur Schau:

Gelb, hellbraun, feuerfarb und blau.



Bist du auch dieses Anblicks müd,

Da mag dein Blick noch tiefer steigen:

Ein drittes Wäldchen wird sich zeigen,

Darin es eifrig lebt und blüht.



Und wahrlich keines von den schlechten:

Es baut sich auf aus Moos und Flechten,

Und sieh, wie reizend es sich zeigt:

Hier zierlich tannenbaumverzweigt,

Dort fein verästelt wie Korallen,

Und hier bebechert und beknopft,

Dort Keulchen siegellackbetropft,

Und hier Trompetchen, die nicht schallen.

Und in dem wunderwinz'gen Wald,

Wie es von tausend Thierchen wimmelt,

Wie's lebt und webt und kriecht und krimmelt

Und von den feinsten Stimmlein schallt!

Und scheint das Völkchen noch so nichtig,

Sie treiben es genau so wichtig

Wie all die Großen ringsumher

Und freun sich ihres Lebens sehr!



Nun, lieber Freund, ich frage wieder:

Schlägst du nicht deine Augen nieder

Und sprichst beschämt: Man irrt sich bald!

Ich bin besiegt und ganz geschlagen

Und will es niemals wieder sagen:

„Langweilig ist der Kiefernwald!”



Heinrich Seidel (1842–1906)